V o r d e r g r u n d | Es war für mich im Januar noch einmal wie ein großes Aufwachen. Ein Neubeginn, auf den ich all die letzten Monate so lange gewartet hatte. Der Neuanfang im Januar 2023 an der künstlerischen Arbeit der vier Kapellenfenster für Auschwitz verlangte jedoch kompromisslos eine vollkommen weiße, ganz neue Leinwand von mir. Gleichsam lagen nun all die für meine Arbeit kostbaren Essenzen aller intensivsten Erfahrungen meiner inneren Prozesse der letzten 20 intensiven Monate der Auseinandersetzung – in und mit Auschwitz – als deutscher Künstler vor mir, stets im ständigen Dialog mit dem Ort, der Geschichte und allen Menschen darin – damals wie heute. Vor allem auch immer wieder im wichtigen Austausch mit Dr. Manfred Deselaers.
Ich versetzte mich noch einmal ganz bewusst in den Besucher des Dialogzentrums hinein, bevor er die eigentliche Kapelle am Nachmittag oder frühen Abend zum stillen Gebet, zur Kontemplation, zur tiefsten Verinnerlichung oder zum Gottesdienst besuchen kommt. Die meisten der neuen Besucher des Zentrums haben zuvor zunächst eine Führung im Stammlager besucht und sind danach noch einmal über Birkenau gelaufen. Sie finden geborgene Zuflucht und Stille inmitten der wichtigen Kapelle des Zentrums, das gerade oft während der Hauptsaison von unzähligen Schulklassen und Übernachtungsgästen wimmelt. Hier finden Sie die Stille und Ruhe inmitten den äußeren Treibens – insbesondere jedoch auch in ihrer inneren Bewegtheit der Gefühle: Das bestialische Grauen und das unsagbare unmenschlichste Leid aller Lagerinsassen und Häftlinge steht Ihnen sichtbar tief in das Gesicht und in die Seele hinein geschrieben. Man ist schier verzweifelt durch all das, was man an diesem damals unmenschlichsten Abgrund vermittelt bekommt.
Ich stellte mich noch einmal ganz neu die entscheidende innere Frage als Künstler. Nach all dem abscheulichen Grauen, das ich all die Stunden mitfühlend empfunden habe, mit all diesen tief erschreckenden Fotos, Zeichnungen und Bildern, welche ich in den Baracken in Ausstellungen sah – und nach all den aufwühlenden Erlebnisgeschichten, die ich immer wieder zusätzlich von den Fremdenführern und Installationen vor Ort vermittelt bekam: Was möchte ich wirklich nach alldem in der Glaskunst der Kapelle des Dialogzentrum sehen?
Die Antwort war für mich vollkommen klar: Die Weite unserer Seele. Ich möchte Trost darin finden, frei darin Hoffnung atmen, all die schrecklichen Bilder und Begebenheiten Gott in diesen Fenstern innerlich hinhalten und kurz alles in einer tiefen Weite meines Herzens loszulassen, zugleich meinen Geist still darin zu versenken und wieder ganz zur mir zurückzukehren zu dürfen, mich innerlich zu sammeln, in tiefem Glauben an die ethische Grundlage all unserer puren Menschlichkeit, in tiefer Transzendenz „Gott zutiefst zugewandt“ – welcher mich im Lichte seines Seins empfängt.
Die Kapelle sollte mich sinnbildlich in einem goldenen Licht der Schöpfung empfangen, zwischen Himmel und Erde. Wolken und Weite, in gelbgoldenen Farbräumen, dazu ein lebendig sattes, dunkel leuchtendes Türkisgrün, im Einklang mit dem dunklen Firmament des Sternenhimmels. In meiner anfänglichen Lichtmalerei war der Fond des Ethikfensters noch in einer Verschmelzung mit dem Fenster der Transzendenz verschmolzen. Im Licht in der Dunkelheit sieht man in der Urversion noch eine weibliche Silhouette aus Licht, welche in das transzendente Licht sinnbildlich hineingeht. Für mich ist es die Silhouette von Edith Stein, welche durch Ihren Tod als Martyrerin in Auschwitz zu Gott geht. Noch finden sich in der ersten Gestaltung des Ethikfensters keine Menschen.
Im nächsten Schritt meiner Gestaltung malte ich in das Fenster der Transzendenz in die Lichtgestalt von Edith ein Lichtkreuz hinein. Und arbeitete sinnbildlich an einer figurativen Verdichtung des Lichtes, schier anmutend im oberen Bereich wie Engelsflügel. Edith Stein setzte ich dafür als neue Porträtmalerei, welche ich im Juli noch malte, auf der rechten Seite über die Wolken hinein: Ihr Gesicht ist der Transzendenz zugewandt. Unter dem Lichtgebilde der Transzendenz – das Licht in der dunklen Nacht der Seele – türmen sich dunklere Wolken auf. In der linken Scheibe ist im oberen Bereich ein gleißend leuchtendes Tor zu sehen, aus dem pures Licht hinaus nach unten zu uns Menschen fließt. Für mich ist es symbolisch als Künstler das Eingangsportal zum neuen himmlischen Jerusalem, welches uns Christen zutiefst verheißt, dass nach der Apokalypse das neue Jerusalem aus dem Himmel leuchtend herabfährt, nachdem der alte Himmel und die alte Erde vergangen sind.
Am rechten Rand des Ethikfensters ist im länglichen Fenster unten einer der zum Lager geneigten Betonpfeiler mit Stacheldraht zu sehen, dahinter fliegen Tauben verschwommen, leicht für unsere Augen in der Wahrnehmung verschoben nach oben. Man sieht darüber noch Formen des Feuers. Für das eigentliche Ethikfenster wollte ich mich künstlerisch ganz davon befreien, bestimmte Menschengruppen abzubilden – gleichsam wollte ich die Vergangenheit in unsere Neuzeit visuell holen und zutiefst mit unserer Zukunft als Menschen verbinden: Was bedeutet es heute als Menschen, in Auschwitz zu sein? Wie gehen wir damit heute als Menschen um? Was oder wen stellen diese Menschen dar, welche in einem Strom heraus miteinander einen Weg gehen? Sind es die Menschen, welche damals vor den Zügen sich versammelten, alle in den Tod gingen? Vor allem Juden, Sinti und Roma? Politische polnische Gefangene? Oder sind es wir vielleicht heute, als Besucher aus der ganzen Welt, welche in schier endlosen Besucherströmen jedes neue Jahr miteinander über Birkenau gehen?
Man ist sich erst einmal nicht sicher, ob die Personen damals oder heute sinnbildlich durch das rechte Fenster hindurch gemeinsam gehen. Viele halten sich an den Händen. Haben Sie moderne Kleidung an? Sieht man Häftlinge dazwischen? Man weiß es nicht. Sie alle laufen jedoch gemeinsam zu einem Berg aus Licht, auf dem die zwei riesigen Tafeln der zehn Gebote Gottes stehen, die Gott durch Moses auf dem Berg Sinai und Menschen zutiefst unerschütterlich an unser Herz gab. Sie sind im Dekalog bewusst in hebräisch geschrieben. Und durch all das hindurch leuchtet groß und stark das uns alle zutiefst auf der ganzen Welt bindende, zutiefst existentiell verpflichtende, ja im Seelengrund ermahnende Gebot Gottes in hebräischer Schrift hindurch: DU SOLLST NICHT TÖTEN. Als tiefste Mahnung an uns Lebende!
Natürlich will und kann ich all das Leid, den Schmerz und das unsagbare nackte Grauen nicht dabei inmitten der Andacht in der Kapelle vor diesen Fenstern vergessen, das Auschwitz Millionen von Menschen angetan hat. Dafür wird ja auch gerade das Gedenken und der bewusste Besuch aller an diesem Ort zutiefst in der Seele erhalten. Und ein jeder Besucher in Auschwitz ist sich wohl dessen kompromisslos bewusst. Die Kapellenfenster sind für mich als Künstler jedoch Teil einer tiefsten Katharsis, welche den absolut in seiner Seele erschütterten Besucher und Anteilnehmer erst einmal danach warm und geborgen empfangen, um sich neu kontemplativ zu sammeln und zu verorten. Zugleich in der Kapelle Trost, Zuversicht und Hoffnung in all unserer existentiellen Erschütterung wieder zu empfangen, um gerade an diesem damaligen Ort des absoluten Bösen das grausamste Geschehene in einem inneren Prozess wieder in seinem Herzen in Liebe zu integrieren – und in sein eigenes Leben auf dieser Welt als erfahrene Essenz fürsorglich und existentiell ethisch-moralisch verpflichtend mit hineinzunehmen. Gott ist Liebe. Er hat uns seine Gebote für unser Miteinander unter all unseren Nächsten auf dieser Welt gegeben. Und wir Menschen müssen – mehr denn je heute, Jahrzehnte nach Auschwitz – dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Gleichsam dürfen wir zutiefst darauf in Hoffnung vertrauen, dass in noch so dunkelsten Nächten unserer menschlichen Seele das Licht Gottes hindurch scheint. Zu Lebzeiten wie zu unserem Tode: Uns alle in Liebe empfängt.
Die Gestaltung befindet sich nun auf den weiteren Wegen im Austausch und Dialog mit Dr. Manfred Deselaers,
dem neuen Direktor des Dialogzentrums sowie der Kunstkommission des Erzbistums Krakau. | Februar 2023